BSG 10.09.2020 / Gewährung eines Wohngruppenzuschlags aus der Pflegeversicherung


Sachverhalt:

Der 1954 geborene Kläger bezieht von der Beklagten seit 1.1.2015 Leistungen der Pflegeversicherung. Von Oktober 2015 bis Ende September 2018 bewohnte er ein Apartment in der Senioren-Wohnanlage T & K. Diese Anlage umfasste elf Einzel-Apartments, die sich über zwei Etagen erstrecken. Jedes Apartment hat eine Größe von ca 46 qm und besteht aus einem Wohnraum, einem Schlafraum, einem Badezimmer und einer vollausgestatteten Küchenzeile im Wohnraum. Jedes Apartment besitzt eine eigene Klingel und einen eigenen Briefkasten. Im Erdgeschoss der Wohnanlage befindet sich ein Gemeinschaftsraum mit Esstisch für alle Bewohner, einer großen vollausgestatteten Gemeinschaftsküche sowie einer Sitz- und Leseecke. Zu diesem Gemeinschaftsbereich gehört ein weiteres Badezimmer. Der Betreiber der Einrichtung und der Betreuer des Klägers haben zwei Verträge abgeschlossen: Ein Vertrag hat die Anmietung des Apartments zum Inhalt, der andere die Gewährung von Betreuungsleistungen. Diese Verträge weisen eine zu zahlende monatliche Miete für den Wohnbereich iHv 285 Euro, eine Betriebskostenvorauszahlung und eine Nutzungsentgeltvorauszahlung für die Gemeinschaftseinrichtungen von 127 Euro aus. Das Seniorenzentrum stellt ein "Grundservice- Paket" mit allgemeinen Betreuungsleistungen und sozialen, verwaltenden und organisatorischen Leistungen zur Verfügung. Die Bewohner wollen die Betreuungsleistungen - ausweislich einer gemeinsam von ihnen unterzeichneten Erklärung - von einer namentlich benannten Person erhalten.

Im Oktober 2015 beantragte der Betreuer des Klägers die Gewährung eines Wohngruppenzuschlages. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da die dafür nötige Voraussetzung des § 38a SGB XI, dass es sich um eine "Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung" handele, nicht erfüllt sei. Der Kläger wohne vielmehr in einer eigenen Zwei-Zimmer-Wohnung mit Sanitärbereich.

Das dagegen nach erfolglosem Widerspruchsverfahren angerufene SG hat die Klage aus gleichem Grund abgewiesen. Eine "gemeinsame" Wohnung mit den anderen pflegebedürftigen Mitbewohnern liege nicht schon dann vor, wenn neben dem eigenen kompletten Wohnbereich ein weiterer Gemeinschaftsbereich zur Verfügung stehe, der von den Bewohnern genutzt werden könne. Auch fehle es daran, dass eine sogenannte Präsenzkraft von den Bewohnern gemeinsam ausgewählt und bestimmt worden sei. Die Betreuungsleistungen seien als integraler Bestandteil des Gesamtvertrages für alle Bewohner verpflichtend und die Betreuungskraft vertraglich nur dem Vermieter gegenüber gebunden.

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Die Anspruchsvoraussetzungen seien schon deshalb nicht erfüllt, weil er nicht mit den weiteren Bewohnern der Anlage in einer "gemeinsamen Wohnung" iS von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI gelebt habe. Zu einer nach dem Willen des Gesetzgebers förderungswürdigen Wohnform gehöre eine (äußere) Beschaffenheit der gemeinsamen Wohnung, die das Zusammenleben nicht nur ermögliche, sondern auch erfordere. Die gesamte Wohnanlage sei hier aber so gestaltet, dass der Kläger nicht auf gemeinsam genutzte Wohnräume oder eine gemeinschaftliche Organisation des Zusammenwohnens angewiesen sei.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 38a Abs 1 Satz 1 SGB XI. Die Frage, welche Anforderungen an eine "gemeinsame Wohnung" iS von Nr 1 der Regelung zu stellen seien, werde in Rechtsprechung und Literatur zwar bisher nicht einheitlich beantwortet. Dem Vorliegen einer solchen "gemeinsamen Wohnung" stehe aber - anders als das LSG meine - jedenfalls nicht schon entgegen, dass es die Ausstattung des von einem einzelnen Mitbewohner genutzten Apartments ermögliche, die elementaren Grundbedürfnisse im Tagesablauf auch ohne Nutzung von Gemeinschaftseinrichtungen zu befriedigen. Maßgebend für einen Wohngruppenzuschlag sei vielmehr die Existenz von allen Bewohnern zur Verfügung stehenden nutzbaren Gemeinschaftseinrichtungen überhaupt.


Entscheidung:

Die Revisionen sind in allen drei Verfahren im Sinne der Aufhebung der Entscheidungen des LSG und Zurückverweisung an das jeweilige Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI (in den jeweils ab 1.1.2015 geltenden Fassungen bzw nach der weitgehend identischen versicherungsvertraglichen Klausel in § 4 Abs 7a AVB MB/PVV) kann in allen Verfahren mit den von den Vorinstanzen gegebenen Begründungen nicht rechtsfehlerfrei verneint werden.

Der Senat hat bei seiner Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 38a SGB XI vor allem das gesetzliche Ziel berücksichtigt, ambulante Wohnformen - auch finanziell - zu fördern und weiterzuentwickeln (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum 5. SGB XI-ÄndG <= Erstes Pflegestärkungsgesetz, PSG I>, BT-Drucks 18/2909 S 41 zu Nummer 8), sowie dem Grundsatz der Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen (§ 2 SGB XI) Ausdruck verliehen. Vor diesem Hintergrund dürfen die Maßstäbe für die in den jeweiligen Revisionsverfahren streitigen Anspruchsvoraussetzungen, die individuelle ambulante Versorgungsformen für diesen Personenkreis zu ermöglichen, nicht eng ausgelegt werden. Die Förderung bestimmter Wohnformen mittels eines Wohngruppenzuschlags ist allerdings ausgeschlossen, wenn das Wohnen lediglich bei rein "formaler" Betrachtung der ambulanten Versorgung zuzuordnen wäre, faktisch aber einer stationären Vollversorgung entspräche, oder wenn die Versorgung nicht über die Leistungen der reinen häuslichen Pflege hinausginge.

a) Eine "gemeinsame Wohnung" iS von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI liegt danach erst dann nicht mehr vor, wenn die gesamte Wohnanlage so gestaltet ist, dass nicht mehr auf die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Zusammenwohnens zurückgegriffen werden kann.

b) Dem Anspruch auf Wohngruppenzuschlag steht vor diesem Hintergrund auch nicht entgegen, dass mehr als eine Person Tätigkeiten iSd § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI für die Wohngruppe verrichten soll (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016 - B 3 P 5/14 R, BSGE 120, 271 = SozR 4- 3300 § 38a Nr 1, RdNr 23). Vielmehr lässt die Norm die Beauftragung mehrerer natürlicher und/oder juristischer Personen in Kombination wie auch in einem gestuften Auftragsverhältnis zu. Der lediglich in den Gesetzgebungsmaterialien verwendete Begriff "Präsenzkraft" spricht nicht gegen die rechtlich zulässige Beauftragung juristischer Personen. Die Möglichkeit juristischer Personen, konkret (und nicht nur pauschal) benannte natürliche Personen in die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben einzubinden, ist gleichermaßen geeignet, eine regelmäßige persönliche Präsenz sicherzustellen.

c) Das gesetzliche Erfordernis einer "gemeinschaftlichen" Beauftragung zur Verrichtung der in § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI genannten Aufgaben stellt keine qualifizierten Anforderungen an die Form oder das Zustandekommen des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses. Die nach den Gesetzesmaterialien gewollte zu fördernde individuelle Vielfalt bestimmter Wohngemeinschaften von pflegebedürftigen Menschen verbietet enge Vorgaben für das Zustandekommen der Beauftragung. Aus der typischerweise wechselnden personellen Zusammensetzung dieser Gemeinschaften, dh einer damit verbundenen gewissen Fluktuation, ergeben sich zudem praktische Bedürfnisse, die Beauftragung sowohl durch separat abgeschlossene Vereinbarungen als auch durch deren nachträgliche Genehmigung durch neu eintretende Personen zu ermöglichen. Dafür reicht es aus, wenn einschließlich der die Leistung begehrenden pflegebedürftigen Person mindestens zwei weitere pflegebedürftige Mitglieder der Wohngemeinschaft an der gemeinschaftlichen Beauftragung mitwirken und - im Falle eines Wechsels oder des Ausscheidens von Mitgliedern - die verbliebenen und neuen die Beauftragung aufrechterhalten. Dies kann zur Folge haben, dass durchaus mehrere Beauftragungen nebeneinander innerhalb der Wohngemeinschaft möglich sind.

d) Zentrale Voraussetzung für die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags ist zudem die Festlegung der konkreten Aufgaben im Sinne der Alternativen des § 38a SGB XI. Dies ist nötig, um sicherzustellen, dass sich die zu erledigenden Aufgaben der beauftragten Person deutlich von der individuell benötigten pflegerischen Versorgung unterscheiden (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016, aaO, RdNr 29). Auch darf keine solche personelle/vertragliche Symbiose der zusätzlichen Versorgung mit pflegerischen Leistungen bestehen, die die Abgrenzung zur stationären Vollversorgung nicht mehr gewährleisten würde.

e) § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 4 iVm Nr 1 SGB XI schließt einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag aus, wenn eine stationäre oder quasi-stationäre Versorgungsform vorliegt. Als zentrales Abgrenzungsmerkmal zur ambulanten Versorgung kommt es dabei nicht auf heimrechtliche, sondern auf leistungsrechtliche Kriterien an. Nach den Materialien zum PSG I soll es für die Bejahung der ambulanten Versorgung darauf ankommen, dass regelhaft Beiträge der Bewohner selbst, ihres persönlichen sozialen Umfelds oder von bürgerschaftlich Tätigen zur Versorgung notwendig bleiben (vgl Ausschussbericht, aaO, BT-Drucks 18/2909 S 42). Eine ambulante Versorgungsform liegt folglich vor, wenn keine vollständige Übertragung der Verantwortung ohne freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen erfolgt, sondern wenn die Versorgung auf die Übernahme von Aufgaben durch Dritte angelegt ist, unabhängig davon, ob auch tatsächlich davon in bestimmter Weise Gebrauch gemacht wird.

f) In der Revisionssache B 3 P 1/20 R durfte entgegen der Ansicht der Vorinstanzen die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass es sich bei der Wohnform des Klägers um keine "gemeinsame Wohnung" handele.

g) Ob die beklagten Leistungsträger im jeweiligen Rechtsstreit zur Zahlung der Wohngruppenzuschläge zu verurteilen sind, kann der erkennende Senat in allen drei Fällen allerdings nicht selbst abschließend entscheiden. Hierzu sind in den wieder eröffneten Berufungsverfahren Feststellungen auch zu allen weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 38a SGB XI nötig und nachzuholen, die die Tatsacheninstanzen - von ihrem Rechtsstandpunkt aus konsequent - bisher unterlassen haben.

Sozialgericht Aurich - S 12 P 16/16, 15.08.2017
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 15 P 47/17, 26.11.2019
Bundessozialgericht - B 3 P 1/20R -  


Volltext liegt noch nicht vor

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