Gemeinsames Rundschreiben vom 01.12.2021 zu den leistungsrechtlichen Vorschriften

Selbstbestimmung / § 2 SGB XI

1. Allgemeines

Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.

2. Aktivierende Pflege

(1) Die von Pflegekräften, Pflegeeinrichtungen und Pflegepersonen erbrachte Pflege soll auch die Aktivierung des Pflegebedürftigen zum Ziel haben, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und soweit dies möglich ist, verlorene Fähigkeiten zurück zu gewinnen. Sie fördert und sichert vorhandene und wieder erlernbare Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen, unterstützt seine Selbständigkeit und Selbsthilfefähigkeit und leitet den Pflegebedürftigen an, bei der Ausführung aller Pflegeleistungen mitzuhelfen. Aktivierende Maßnahmen sollen alle körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen einbeziehen, aber auch die Hilfen bei der Haushaltsführung und die Organisation des Tagesablaufs. Die Angehörigen und der Lebenspartner sollen sich an der aktivierenden Pflege beteiligen.

(2) Die aktive Einbeziehung des Pflegebedürftigen ist eine wesentliche Voraussetzung, Pflegebedürftigkeit zu überwinden, den Pflegezustand zu verbessern oder einer Verschlimmerung vorzubeugen. Dazu gehört z. B. die Ermunterung und ggf. Hilfestellung beim bettlägerigen Pflegebedürftigen zum Aufstehen und Umhergehen, die geistige Anregung insbesondere bei alleinstehenden, vereinsamten Menschen, die Anleitung zum selbständigen Essen statt passiver Nahrungsaufnahme.

(3) Die aktivierende Pflege stellt keine besondere – bei Vorliegen der Voraussetzungen nach §§ 14, 15 SGB XI – von der Pflegekasse zu gewährende Leistung dar, sondern ist Ziel und Bestandteil der nach den §§ 36 ff. SGB XI zu gewährenden Pflege. Sie findet deshalb auch keine besondere Berücksichtigung bei der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit und der Pflegegrade.

(4) Soweit die Pflege durch Pflegebedürftige selbst sichergestellt wird (Pflegegeld nach § 37 SGB XI), ist in den von den Pflegekassen durchzuführenden Pflegekursen darauf hinzuwirken, dass auch Angehörige, Lebenspartner und sonstige ehrenamtlich tätige Pflegepersonen aktivierend pflegen.

3. Kommunikationsbedürfnis

Die Erfüllung des Kommunikationsbedürfnisses ist Bestandteil der Betreuung. Dies stellt keine besondere von der Pflegekasse zu gewährende Leistung dar. Allerdings ist bei der Pflege gleichzeitig auf das Kommunikationsbedürfnis des Pflegebedürftigen einzugehen. In Fällen, in denen eine Vereinsamungstendenz des Pflegebedürftigen beobachtet wird, soll sich die Pflegekraft deshalb auch um die Vermittlung von Gesprächsmöglichkeiten für den Pflegebedürftigen insbesondere mit ehrenamtlichen Kräften bemühen. Hierbei ist den besonderen Bedürfnissen seelisch oder geistig behinderter Menschen Rechnung zu tragen.

4. Rechtsfolgen

(1) Der Eintritt von Pflegebedürftigkeit hat in aller Regel zur Folge, dass der Pflegebedürftige Einschränkungen in der freien Gestaltung seines Lebens hinnehmen muss. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind daher so zu gestalten und einzusetzen, dass sie mit dazu beitragen, die Möglichkeiten zu einer selbstbestimmten Lebensführung im Rahmen der dem Pflegebedürftigen verbliebenen Fähigkeiten zu nutzen. Das erfordert ein den individuellen Bedürfnissen des Pflegebedürftigen Rechnung tragendes Leistungsangebot.

(2) Eine wesentliche Voraussetzung zur Führung eines selbstbestimmten menschenwürdigen Lebens bei Pflegebedürftigkeit ist das der Pflegeversicherung innewohnende Prinzip des Wunsch- und Wahlrechts der Pflegebedürftigen hinsichtlich der Leistung. Dies gilt auch im Hinblick auf die gleichgeschlechtliche Pflege (vgl. Ziffer 1 zu § 1 SGB XI). Die Leistung darf mithin den Pflegebedürftigen nicht bevormunden. Das Wunsch- und Wahlrecht des Pflegebedürftigen wird allerdings insoweit eingegrenzt, als die Solidargemeinschaft nur für angemessene Wünsche im Rahmen des vorgesehenen Leistungsrechts einzustehen hat.

(3) Den religiösen Bedürfnissen des Pflegebedürftigen soll Rechnung getragen werden. Dabei soll insbesondere bei einer Heimunterbringung sichergestellt werden, dass das religiöse Bekenntnis des Pflegebedürftigen geachtet wird und eine seelsorgerische Betreuung erfolgen kann.

(4) Um zu gewährleisten, dass Pflegebedürftige ihre Wünsche äußern und auch tatsächlich von ihrem Wunsch- und Wahlrecht Gebrauch machen können, obliegt den Pflegekassen die Verpflichtung, die Pflegebedürftigen über ihre Rechte nach den Absätzen 2 und 3 zu informieren (vgl. § 7 SGB XI, § 13 ff. SGB I).

mail@kv-media.de